Ionka

Ich hatte den Abend bei Mimi verbracht. Mitternacht war vorüber, als ich mich auf den Heimweg machte. Mama wartete auf mich. Sie schlief nicht ein, bevor wir alle zu Hause waren; und ich kam meistens als letzter. Wegen der Verdunklung brannten keine Straßenlaternen. Niemand begegnete mir. Die Menschen gingen, in Erwartung des nächsten Fliegeralarms, zeitiger zu Bett als in den ersten Kriegsjahren. Ich lief an der hohen Backsteinmauer des Zoologischen Gartens entlang, wo die alten, dichten Platanen auch noch den letzten Schimmer des Mondlichts abfingen. Dort war es so finster, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, an jemandem vorübergegangen zu sein, der sich an die Mauer drückte. Ich erschrak, drehte mich um und erkannte die schattenhaften Umrisse einer Frau. Ihr Gesicht und die Hände waren ein wenig deutlicher zu sehen. Ich ging einen Schritt auf sie zu. Sie lief nicht davon, kramte in der Handtasche herum, und dann hielt sie mir mit ausgestrecktem Arm einen Zettel entgegen. Ich nahm ihn, konnte ihn aber in der Dunkelheit nicht lesen.

»Kommen Sie«, sagte ich und überquerte die Straße. Sie folgte mir mit einigem Abstand. In einem Hauseingang der gegenüberliegenden Königswarterstraße las ich im kurzen Aufflammen eines Streichholzes unter dem Jackett: Beethovenstraße 12.

»Wollen Sie dorthin?«

»Ja, ich weiß nicht den Weg.« Sie sprach nur gebrochen deutsch.

»Ich gehe zum Opernplatz. Von dort ist es nicht mehr weit zur Beethovenstraße.«

So gingen wir zusammen die Zeil hinunter. Seit zwei Stunden schon fuhren keine Straßenbahnen mehr. Ab und zu schaute ich sie an und versuchte, trotz der Dunkelheit, ihr Gesicht zu erkennen.

»Wollen Sie mit einem Taxi fahren?« fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe lieber zu Fuß.«

Sie war sehr hübsch, etwa so alt wie ich, hatte ein schmales Gesicht, und ihr glattes, schwarzes Haar reichte bis auf die Schultern. Man hätte sie für eine Jüdin halten können.

Ich merkte, daß auch sie mich ansah. Mir war nicht wohl dabei. Eine Zeitlang schwiegen wir, dann sprachen wir von der Verdunklung, vom Krieg, das übliche.

Allmählich erfuhr ich, daß sie erst drei Wochen zuvor aus Bulgarien nach Deutschland gekommen war, in Sofia studiert hatte, jetzt bei einer Familie in der Beethovenstraße im Haushalt arbeitete und dort auch wohnte. Der ungewöhnliche Wechsel von der Universität in den Haushalt verwunderte mich zwar, ich machte mir aber weiter keine Gedanken darüber. Nach einer Weile stellte sich heraus, daß wir uns am besten in Französisch verständigen konnten.

Als wir eine Straße überquerten, hielt ich sie leicht am Arm fest, damit sie in der Dunkelheit nicht stolpere. Sie hatte nichts dagegen. Kurz vor der Konstablerwache gab es Fliegeralarm. Ich nahm ihre Hand und rannte mit ihr die Straße entlang zum nächsten öffentlichen Luftschutzkeller. Dabei mußte ich, wegen der Dunkelheit, ihre Hand ganz fest halten, und das war mir sehr angenehm. Dort beim engen Nebeneinandersitzen spürte ich deutlich ihren Körper und ihre Wärme. Als ich den Arm behutsam und zögernd um ihre Schultern legte, weil man so auf der schmalen Bank besser sitzen konnte, lächelte sie mich an. Ich sprach nicht mit ihr, saß nur stumm da, schaute ihr ab und zu ins Gesicht und lächelte auch. Dabei beobachtete ich voller Unruhe den Luftschutzwart, der, in der dunkelbraunen Uniform eines NS-Amtswalters, mit strengem Gesicht durch die Kellerräume ging. Ich bildete mir ein, er mustere uns beide jedesmal, wenn er vorbeikam, besonders scharf und mißtrauisch. Vielleicht könnte er die junge Frau neben mir für eine Zwangsarbeiterin halten, grübelte ich. Die durften nie ohne Bewachung ausgehen und mußten um diese Zeit längst in ihren abgeschlossenen Massenquartieren sein. Obwohl sie ganz anders gekleidet war als die russischen und polnischen Frauen aus den Lagern, hatte ich Angst um sie und wagte deshalb auch nicht, mit ihr zu sprechen. Viel zu schnell war wieder Entwarnung.

Wir gingen die menschenleere Zeil entlang, unterhielten uns und hatten es nicht eilig. Als sie in der Nähe der Hauptwache gegen ein an der Hauswand abgestelltes Fahrrad stieß, das in der Finsternis nur schwer erkennbar war, hielt sie sich an mir fest. Am Opernplatz ergab es sich von selbst, daß ich ihr anbot, sie auch noch bis in die Beethovenstraße zu begleiten, weil sie unmöglich allein durch die dunkle, baumbestandene Bockenheimer Landstraße gehen könne. »Sehr gern«, sagte sie und hängte sich bei mir ein. Auf der Höhe der Freiherr-vom-Stein-Straße küßten wir uns das erste Mal. Ich verlangsamte den Schritt, damit ich sie auf der kurzen Strecke bis zur Beethovenstraße noch möglichst lange riechen und spüren und möglichst oft küssen konnte.

Sie sagte, daß sie Ionka Michailowa Dragowa heiße und daß ich sie Ionka nennen dürfe.

Wir hatten beide noch keine Lust, uns zu trennen. Darum setzten wir uns in dem geschützten Anlagenkarree des Beethovenplatzes auf eine Bank, ganz eng aneinander, denn die Märznacht war kalt und wir hatten uns noch viel zu erzählen. Und dann liebten wir uns, lange nach Mitternacht, auf der Bank im Anlagenkarree des Beethovenplatzes.

Ionka war freiwillig nach Nazideutschland gekommen, ein Umstand, der mich Anfang März 1942 hätte mißtrauisch machen müssen. Sie war, so sagte sie, einem Freund gefolgt, der in Frankfurt seine Sprachstudien fortsetzen wollte. Der Freund hieß Michael Todoroff. Auch an diesem Abend war sie bei ihm gewesen. Seine Wohnung lag in der Straße Am Tiergarten, direkt hinter dem Zoo. Sie hatten sich gestritten, und Ionka war wütend aus seiner Wohnung fortgelaufen. Nicht einmal das Geld für ein Taxi hatte sie bei sich.

»Und da traf ich dich, welch ein Glück.« Das sagte sie mir einige Tage danach und küßte mich.

Als ich Monate später Genaueres über den Streit mit ihrem Freund erfuhr, wußte sie schon alles von mir. Ich hatte mich ihr durch meine schwatzhafte Verliebtheit ganz in die Hände gegeben, ohne zu bedenken, daß damit mein und meiner Familie Leben wieder einmal in große Gefahr gekommen war.

Wir liebten uns weiter auf der Bank in dem kleinen geschlossenen Anlagenviereck. Andere Plätze gab es für uns nicht, das heißt, nicht in meiner Vorstellung. Oft fragte mich Ionka, ob ich es nicht fertigbrächte, irgendwo einen Platz zu finden, wo wir ein einziges Mal Zusammensein könnten ohne Wind und Regen, ohne Voyeure und zufällig vorüberkommende Passanten. Aber ich fand keinen Ausweg. Die Kontrollen in den Hotels waren streng; Stundenhotels gab es wohl, aber ich kannte keine, und selbst wenn ich eine Adresse gehabt hätte, wäre es eine unverzeihliche Dummheit gewesen, dorthin zu gehen. Mama würde nie erlaubt haben, daß wir in der Kaiserhofstraße übernachteten, ich wagte auch nicht, sie darum zu bitten. Als wir einmal, das war viel später, den Versuch machten und Ionka verabredungsgemäß abends etwas länger bei uns blieb, hatte Mama sie ganz entschieden nach Hause geschickt. In Ionkas Dachstube in der Beethovenstraße konnten wir auch nicht zusammen schlafen, denn ich hätte, um dorthin zu gelangen, durch das Haus ihrer Arbeitgeber gehen müssen, und das war nicht möglich.

Wir froren, ließen uns naßregnen, waren von jedem Vorübergehenden gestört, hatten immer Angst vor Polizeistreifen, ließen uns eines Nachts die Handtasche mit Ionkas Ausweispapieren stehlen, und weil wir immer warten mußten, bis niemand mehr am Beethovenplatz vorbeikam, waren wir tagsüber hundemüde. Trotz allem waren es Stunden des Glücks für uns.

Von ihrem Freund, sagte Ionka, habe sie sich getrennt. Dennoch wußte sie, daß er eine andere Wohnung bezogen hatte; später, daß er für vierzehn Tage nach Sofia gefahren war, um seine Eltern zu besuchen.

 

Natürlich wollte ich wissen, welche politischen Ansichten Ionka hatte, wie sie zu Hitlerdeutschland stand. Darum fragte ich sie eines Tages, als wir im Palmengarten spazierengingen:

»Weißt du eigentlich, Ionka, wer Heinz Beckerle ist?«

»Welchen Beckerle meinst du? Den in Sofia?« »Ja, den deutschen Botschafter.« Ionka blieb stehen. »Warum fragst du das?« »Nur so.«

»Was willst du von mir hören?« fragte sie abweisend. »Ich dachte, es könnte dich interessieren, daß Beckerle auch aus Frankfurt kommt.« »Ich weiß.«

»Woher weißt du das?« Ich war überrascht. »Kennst du ihn denn?«

»Ich habe ihn schon mal gesehen.« »Wo?«

»In Sofia natürlich. Wo sonst.«

»Hattest du etwas mit der deutschen Botschaft zu tun?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil du Beckerle kennst.«

»Den kennen viele in Bulgarien.«

»Und weil du weißt, daß er aus Frankfurt kommt.«

»Das ist Zufall.«

Es schien, als habe Ionka wenig Lust, sich mit mir über Beckerle zu unterhalten. Doch mit ihren Antworten hatte sie mich neugierig gemacht. Deshalb sagte ich: »Beckerle ist ein alter Frankfurter. Er war hier lange Zeit Polizeipräsident.«

Sie ging einige Schritte schweigend neben mir her. Auch ich schwieg. Plötzlich blieb sie stehen und sagte erregt: »Willst du eigentlich etwas Bestimmtes von mir hören? Willst du mich vielleicht prüfen?«

»Aber nein, Ionka!«

»Es hörte sich aber genau so an«, erwiderte sie. Ich war betroffen und fragte mich, warum sie ärgerlich war. Nie wäre mir vorher in den Sinn gekommen, sie irgendwie mit Beckerle in Verbindung zu bringen. Ich nahm mir vor, bei anderer Gelegenheit noch einmal mit ihr darüber zu sprechen. Der Abend war mild, schnell vergaßen wir die Mißstimmung, und Ionka war zärtlich wie an allen Abenden.

 

Zwei Tage später, in den Anlagen am Main, fragte sie mich ganz unerwartet: »Sag, Walja, wie lange war Beckerle Polizeipräsident in Frankfurt?«

»Ich glaube, von 1933 bis zum Kriegsausbruch.«

»Dann war er auch der Mann, der hier die Aktionen gegen die Juden geleitet hat?«

»Sicherlich. Als Polizeipräsident war er der verantwortliche Mann.«

»Für alles?«

»Das nehme ich an. Beckerle war ja auch ein hoher SA-Führer. Und die SA war immer dabei, wenn's gegen die Juden ging.«

Ionka sagte: »Genau wie in Sofia. Mit ihm kam das Unglück. Ich kenne ihn gut.«

Nach einer Weile fragte ich, wie schon vor zwei Tagen: »Woher eigentlich kennst du ihn?«

»Frag nicht. Wenn du wüßtest, Walja, wieviel Schreckliches in Bulgarien passiert ist.«

Dann schilderte mir Ionka, wie sich Bulgarien verändert hatte, seit 1941 deutsche Truppen einmarschierten und Beckerle deutscher Botschafter in Sofia geworden war. Er allein herrsche im Land, und König und Parlament müßten tun, was er befehle. Er verfolge und töte die Patrioten und schaffe alle Juden in Konzentrationslager, genau wie in Deutschland. Ionka hielt inne und schaute mich von der Seite an, als wolle sie prüfen, wie ich darauf reagiere. »Weißt du denn, Walja, was in Wirklichkeit mit den Juden geschieht?«

Zu dieser Zeit war das eine gefährliche Frage. Darauf einzugehen konnte noch gefährlicher sein. Darum gab ich vorsichtig zur Antwort: »Ich glaube ja.«

»Ist das nicht furchtbar?«

Ich nahm sie in den Arm und küßte sie. »Daß du das gesagt hast, macht mich froh, Ionka.« »Warum?«

»Weil ich jetzt weiß, daß wir beide ähnliche Gedanken haben. Aber es sind Gedanken, die man nicht aussprechen darf.«

»Das weiß ich besser, als du denkst, Walja.« »In Deutschland muß man sehr vorsichtig sein und sich jedes Wort gut überlegen.«

»Habe ich zuviel gesagt?« fragte sie.

Ich erwiderte: »Sag so etwas niemand anderem, Ionka. Hörst du: niemand!«

»Ich müßte dir noch viel mehr erzählen, Walja, aber da würdest du erschrecken oder es gar nicht verstehen.«

Ionkas Bekenntnis gegen die Nazis und ihre Andeutungen über das, was sie noch zu sagen habe, beschäftigten mich eine Nacht und einen ganzen Tag. Nie zuvor hatten wir über so aktuelle politische Dinge gesprochen. Den ersten Versuch hatte sie abrupt unterbrochen. Und dann diese spontane Äußerung. Das war ein großer Leichtsinn. Als ich es ihr am Tag darauf sagte, antwortete sie: »Ich wußte, daß ich es dir sagen kann, Walja, ich habe Vertrauen zu dir.«

Muß man nicht jemandem ebenfalls vertrauen, der so etwas sagt, selbst in jener Zeit? Ich küßte sie an der Straßenbahnhaltestelle mitten auf der Hauptwache, was damals, 1942 bei den Umstehenden noch viel Aufmerksamkeit erregte. Was ich damit ausdrücken wollte, verstand sie auch ohne Worte.

Ich nahm sie bei der Hand, zog sie auf die andere Straßenseite, vorbei an der Katharinenpforte, die Neue Krame hinunter und in Richtung Main. In der Nähe der Paulskirche waren wir allein. Auf dem großen freien Platz konnten wir jeden sehen, der sich uns näherte.

Einige Male setzte ich zum Reden an. Ionka merkte, wie aufgeregt ich war.

»Was hast du?«

»Nichts. Was soll ich haben?«

»Dich bedrückt etwas, Walja, ich spüre es.«

Ich blieb stehen. »Das stimmt. Ich muß dir etwas sagen, Ionka.«

Sie faßte mich am Arm. »Etwas Schlimmes?« »Wie man's nimmt.«

»Was ist es? Nein, sag es nicht. Ich will es nicht wissen.« Sie ging weiter. Ich hielt sie fest. »Sag es nicht!« »Doch. Ich bin Jude.«

Als hätte ich gesagt: >Ich habe die Pest<, ließ sie mich los, trat erschrocken einen Schritt zurück, musterte mich eine kurze Weile und fragte mit einer merkwürdig tonlosen Stimme: »Ist das wahr?«

»Ja, ich bin Jude.«

»Das ist nicht möglich!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und murmelte durch die Finger: »Das ist ja wahnsinnig!«

Ich verstand nicht ihre Reaktion. Leise, fast flüsternd, schilderte ich ihr, soweit es mir mit meinem mangelhaften Französisch möglich war, die Situation unserer Familie.

Der Paulsplatz war leer. Niemand kam vorbei. Ionka blickte zur Erde und rührte sich nicht von der Stelle. Mir schien es eine Ewigkeit. Dann hob sie langsam den Kopf, näherte sich mir wieder, berührte mich, als wolle sie fühlen, ob ich es denn wirklich bin. »Armer Walja!« Das klang, als habe sie bereits mein Todesurteil vernommen.

Jetzt erschrak ich. Was war mit Ionka? Was hatte sie so verändert? Gab sie mir gar keine Chance mehr?

Schweigsam brachte ich sie nach Hause, an unserer Bank am Beethovenplatz gingen wir vorbei. Zum Abschied fragte ich sie: »Liebst du mich jetzt auch noch?«

Sie gab keine Antwort, umarmte mich und verschwand in der Haustür.

 

Von da an lag ein Schatten auf unserer Liebe. Wir umarmten und küßten und liebten uns in den Nächten auf unserer Bank. Aber es war jetzt nicht mehr wie früher.

Ionka bedrängte mich, meine Familie kennenzulernen. Eines Tages nahm ich sie mit in die Kaiserhofstraße, nicht ohne ihr vorher eingeschärft zu haben, daß meine Familie von dem, was ich ihr am Paulsplatz anvertraut hatte, kein Wort erfahren dürfe.

Ionka unterhielt sich mit Mama und Papa in Russisch. Sie blieb zum Abendessen. Mama war zu dieser Zeit schon sehr krank und lag meist im Bett. Auch Paula und Alex kamen später, und ich hatte das Gefühl, Ionka wäre das erste Mal seit diesem Abend wieder fröhlich.

Nun kam sie öfter zu uns nach Hause. Mit Mama schloß sie eine richtige Freundschaft und brachte Geschenke für sie mit, selbstgestickte Deckchen und Taschentücher mit bulgarischen Folkloremotiven, einen seidenen Beutel, ein besticktes Kissen. Doch die Traurigkeit war in ihr geblieben und eine Distanz zu mir. Jetzt fiel mir auch auf, daß ich sie nie mehr bis ganz nach Hause bringen durfte. Am Kettenhofweg, spätestens an der Ecke Westendstraße verabschiedete sie mich. Oft fragte ich, ob sie etwas bedrücke.

»Nichts, nichts«, sagte sie immer wieder.

Als wir uns eines Abends trafen, standen zwei Koffer und eine Hutschachtel neben ihr auf der Straße. Sie sei in der Beethovenstraße ausgezogen, sagte sie verlegen. Es sah aber mehr danach aus, als sei sie Hals über Kopf davongelaufen.

Ich bot ihr an, mit Mama zu sprechen, ob sie ein paar Tage bei uns übernachten könne. Hastig und fast ängstlich lehnte sie ab. Keine einzige Nacht werde sie in unserem Hause bleiben. So fuhren wir zum Hauptbahnhof und gingen von einem Hotel zum anderen, bis wir schließlich im Hotel Vier Jahreszeiten ein Zimmer für sie fanden.

In dieser Nacht gingen wir noch lange am Main spazieren, und Ionka erzählte mir das erste Mal Einzelheiten von ihrer Familie: dem kranken Vater, dem im Ersten Weltkrieg ein Bein abgeschossen worden war und der im Familienrat nichts mehr zu sagen hatte; der strengen Mutter, die den Vater haßte; dem älteren Bruder, der dem ewigen Streit zu Hause entflohen war und in Plovdiv als kaufmännischer Angestellter arbeitete; dem zwölf Jahre jüngeren Bruder, dem allein alle mütterliche Liebe galt.

Auch von ihrem Studium erzählte Ionka, wie schwer sie es habe, weil sie gegen den Willen der Mutter studiere, die sie nach dem Abitur lieber im Haus behalten hätte zu ihrer eigenen Hilfe. Darum bekam sie keine Unterstützung von Zuhause und mußte sich das Geld für das Studium selbst verdienen. Ionka wollte Sprachlehrerin werden. Ihr Französisch war hervorragend. Ebenso perfekt sprach sie Englisch und Russisch.

Ich schlug ihr vor, wir sollten uns gleich am andern Morgen nach einem neuen Zimmer umschauen. Sie brauche sich auch keine Sorgen um eine neue Arbeitsstelle zu machen, versuchte ich sie zu beruhigen, die fänden wir sehr schnell.

Ionka schüttelte den Kopf: »Mach dir keine Mühe. Ich suche keine andere Wohnung - ich fahre nach Sofia zurück.«

Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Nach Sofia zurück?«

»Ja, du hast richtig verstanden.«

»Um Himmels willen, warum denn das, Ionka? Und warum ausgerechnet jetzt?« Ionka schwieg.

»Sag doch etwas! Kann ich dir helfen?«

Sie machte eine resignierende Handbewegung. »Du kannst mir nicht helfen. Ich muß zurück, es geht nicht anders. Nicht wegen mir, wegen dir, Walja, und wegen deiner Familie.«

»Aber das läßt sich doch alles klären!«

»Nein, glaub es mir.«

»Wir müssen darüber sprechen.«

»Das verstehst du nicht.«

»Dann erklär es mir!«

»Laß sein!« Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen. Einige Tage später bat sie mich, mit ihr in den Ostpark zu fahren. Sie wolle mit mir sprechen und ganz sicher sein, daß uns niemand belauschen könne.

Während wir Hand in Hand quer über die Ostparkwiese gingen, am Weiher entlang und durch die Gärten, erzählte mir Ionka die Geschichte ihres Freundes Michael Todoroff. Michael, der Sohn eines Bibliothekars, ein unauffälliger und politisch uninteressierter Junge, hatte an der Universität in Sofia Sprachen studiert, zur gleichen Zeit, als auch Ionka mit ihrem Studium begonnen hatte. Sie trafen sich in den Vorlesungen und Seminaren und freundeten sich an.

Im dritten Semester passierte es, daß ein Student Ionka anpöbelte. Als Michael ihn deswegen zur Rede stellte, kam es zu einer Schlägerei auf dem Universitätsgelände, wobei der andere durch Messerstiche verletzt wurde. Michael erhielt mehrere Monate Gefängnis, und man verwies ihn von der Universität.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bemühte er sich vergeblich, wieder zum Studium zugelassen zu werden. Damals, im Herbst 1941, hatten die deutschen Truppen bereits Bulgarien besetzt. Hitlersympathisanten und Kollaborateure schlossen sich mit deutschen Offizieren und Besatzungsangestellten zu einem bulgarisch-deutschen Freundeskreis zusammen, dem auch einige bulgarische Studenten angehörten. Einer von ihnen riet Michael, an den Zusammenkünften dieses Kreises teilzunehmen; dort werde er Kontakt zu deutschen Besatzungsfunktionären bekommen, die auf die Universitätsleitung Einfluß hätten.

Nach einigem Zögern nahm Michael die Empfehlung an und wurde dort auch sehr schnell mit einem Angehörigen der deutschen Botschaft bekannt. Als er von Michaels Schwierigkeiten hörte, bestellte er ihn in sein Büro und bot ihm an, dafür zu sorgen, daß Michael weiterstudieren könne, wenn er sich zu einer Gegenleistung verpflichte. Diese bestand darin, in einer antifaschistischen Studentengruppe als »Beobachter« tätig zu werden. Michael wußte, was das bedeutete und sagte trotzdem zu, weil er glaubte, keine andere Chance zu haben, sein Studium fortzusetzen.

Eines Tages erklärte ihm sein deutscher Kontaktmann, die Rücknahme der Relegation würde noch einige Zeit auf sich warten lassen, darum habe man ihm für ein Semester einen Studienplatz an der Frankfurter Universität besorgt. Er müsse bereits in der nächsten Woche nach Frankfurt abreisen.

Michael befürchtete, daß das Studium in Frankfurt mit seiner geheimdienstlichen Tätigkeit zusammenhing. Ionka, der er sich kurz vor seiner Abreise anvertraut hatte, war ebenfalls dieser Meinung. Aber absagen konnte Michael nicht. Man fragte ihn schon gar nicht mehr, sondern übergab ihm die Fahrkarte nach Frankfurt und die Anweisung, mit welchem Zug er zu fahren habe. Auf einem Zettel stand die Adresse in der Straße Am Tiergarten, wo bereits ein Zimmer für ihn gemietet war. Er mußte auch keine deutsche Dienststelle in Frankfurt aufsuchen, die Mittelsmänner kamen in seine Wohnung und brachten ihm seine Papiere dorthin.

Ionka, die sich mitschuldig fühlte an Michaels Kontakten zum deutschen Geheimdienst, folgte ihm kurze Zeit später nach Frankfurt. Sie hoffte, ihn dazu bringen zu können, seine Spitzeltätigkeit aufzugeben.

Michaels Vermutung bestätigte sich. Man hatte ihn hierhergeholt, um ihn zum V-Mann auszubilden. Dabei konnte er sich tatsächlich an der Frankfurter Universität immatrikulieren und seine Sprachstudien fortsetzen. Als seine Mittelsmänner erfuhren, daß ihm Ionka nach Frankfurt gefolgt war, veranlaßten sie ihn, auf seine Freundin Druck auszuüben, daß sie ebenfalls an der Universität Sofia für den deutschen Geheimdienst arbeite. Darüber hatten sie sich an dem Abend, als ich in der Dunkelheit auf Ionka stieß, zerstritten.

 

Das alles erzählte mir Ionka, während wir vom Ostparkweiher durch die Gärten zur Ratsbrücke gingen. Es war inzwischen längst dunkel geworden.

»Hast du Michael danach noch oft gesehen?« fragte ich. »Ein paarmal, es ließ sich nicht vermeiden.«

»Liebst du ihn noch?«

»Nein, schon lange nicht mehr, wir haben nichts mehr miteinander. Und jetzt frag nicht weiter, ich bitte dich.«

Sie verlor kein Wort mehr darüber, weder an diesem Abend, als wir mit der Straßenbahn zurück zum Hauptbahnhof fuhren, noch in den wenigen Tagen, die bis zu ihrer Abreise blieben.

Was sich in dieser Zeit tatsächlich abgespielt hat, was sie veranlaßt haben konnte, Frankfurt so hastig zu verlassen, wer sie bedrängte, wo ihr ehemaliger Freund geblieben war, ob sie gar selbst Kontakte zur Gestapo gehabt hatte, ich erfuhr es nie.

Seltsam wie ihre Geschichte war auch noch ihre Abreise aus Frankfurt. Sie nahm sich keine durchgehende Fahrkarte nach Sofia, sondern fuhr mit der Bahn bis Wien und von dort mit dem Schiff. Anscheinend wollte sie den offiziellen Grenzübergang an der Bahnstrecke nach Sofia meiden. Aber warum?

Einige Wochen später erhielt ich Post aus Sofia. Sie sei gut angekommen, schrieb Ionka, und arbeite jetzt in einer Kleiderfabrik, in der Uniformen für die deutsche Wehrmacht hergestellt würden. Noch einmal schrieb sie, knapp, unpersönlich. Dann blieb die Post von ihr aus. Keiner meiner Briefe wurde beantwortet.

Wer sie auch war, sie hat unsere Familie nicht verraten, obwohl sie alles von uns wußte. Möglich ist sogar, daß sie deswegen große Pein auf sich nahm.

Meiner ersten Tochter habe ich ihren Namen gegeben: Ionka.

 

Kaiserhof Strasse 12
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